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Fulvia

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198539Fulvia1905Heinrich Mann
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Fulvia

 
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Es war spät. Raminga ordnete mit ihrer fetten und rußigen Hand zwei sparsame Scheite in den Kamin. Gioconda beendete ihre bescheidene Klatschgeschichte zu Füßen der Marchesa Grimi, die gähnte. Die Marchesa Quattrocchi blinzelte in die Flamme. Niemand sprach mehr; über die Dächer, aus der Nacht kam die aufgeregte Stimme eines Glöckchens. Die alte Fulvia sagte plötzlich:

„Ihr Jungen, ihr redet immer, als käme alles im Leben auf Liebesgeschichten an. Ich könnte euch Frauen zeigen, die sie manchmal verachtet haben, weil ihr Herz nach Wichtigerem schlug.“

„O,“ machte die Marchesa Grimi. Sie lebte von ihrem Mann getrennt, und sie lebte nur der Anstrengung, mit der sie Tröstungen entsagte.

Die Marchesa Quattrocchi war ganz bedeckt mit Abenteuern. Sie meinte erstaunt:

„Wichtigere Dinge?“ [ 98 ]


Raminga und Gioconda sagten mit saurer Heiterkeit:

„Die Mama hat leicht reden, da sie ja den Papa gehabt hat. Da möchten auch uns die Liebesgeschichten gleich sein.“

„Einer der Befreier des Landes,“ erklärte die Marchesa Grimi. „Das waren noch Ritter, mit denen ließ sich leben.“

Sie seufzte. Die Marchesa Quattrocchi rief:

„Liebe und Freiheit!“

„Die Freiheit ging uns vor,“ sagte Fulvia. „Säßen wir sonst hier?“

Und sie lauschte. Von Rom war nichts vernehmlich als das einzige Glöckchen.

„Hätten wir sonst Ferrara, unsere Stadt, hätten wir unsere Familie verlassen, mein Mann und ich? Wären wir gegen die Deutschen gezogen? Hätten wir unser Vermögen dem Lande gegeben? Hätte Claudio seine Gesundheit und einen Arm darangegeben, und ich mein Behagen? O, viele haben die Opfer, die sie der Freiheit brachten, als Einsatz benützt, und haben großen Gewinn gemacht. Wir nicht. Claudio wollte Gemeiner bleiben, er, ein Advokat. Alle Grade hat er sich auf Schlachtfeldern geholt, und unser Oberst Calvi, der Arme, den die Deutschen zu [ 99 ]Mantua gehängt haben, er war es, der meinen Mann zum Kapitän machte, auf dem Markusplatz in Venedig.

Wie viel Not, wie viele Ermüdungen, wie viel Blut von 48 bis 70! Wir wurden von der Regierung als Beamte in Alpendörfer geschickt, und kamen im Eise um. Wir mußten Ordnung und Sicherheit herstellen in Cesena und Forli, Städten, die unter der langen Priesterherrschaft verwildert waren. Wenn Claudio abends ausging, zitterte ich in meinem Bett; denn man fand jeden Morgen Leichen vor den Schwellen ihrer Häuser. Dann waren wir Unterpräfekten in Comacchio, wo es in den Sümpfen nichts gab als Aale und Aalfischer; dann in Pesaro, wo die Damen der guten Gesellschaft zur Hälfte frühere Dienstmädchen, zur anderen Hälfte alte Balletteusen waren, und alle gingen in Holzschuhen … Endlich, das ist wahr, kamen wir als Präfekten nach Parma. Wir wohnten in dem Palast der Marie Luise, wir gaben Feste, in jedem Theater gehörte uns eine Loge. Es fror uns sehr in den weiten Sälen mit ihrem vergoldeten Stuck. Aber ich, Fulvia Galanti, habe mit dem König Viktor Emanuel getanzt.“

Die vier Frauen sahen stumm zu ihr hinüber, [ 100 ]sie erkannten einen Abglanz ihrer alten Größe auf Fulvia. Sie saß am andern Ende des staubigen Salons, weit fort von dem Feuer, das sie verachtete, und an dessen Reste sie erst spät in der Nacht, wenn alle schliefen, heimlich ihre gekrümmten Hände hielt. Ganz allein saß sie vor dem langen Tisch, mager, steif wie ein Idol, mit goldenen Ketten bedeckt, und weiße, gebrannte Locken über dem langen, weißen Gesicht.

„Aber als sie Claudio pensionierten, was blieb uns? Er wollte in Rom sterben, und in Rom ist er gestorben. Auch ich werde hier sterben; das ist alles, was uns beiden die Freiheit des Landes eingetragen hat. Und es ist genug.“

„Du hattest auch die Liebe,“ sagte hartnäckig Raminga, und ließ sich von ihrem Hündchen das Gesicht lecken.

„Wenn ich Lino hätte heiraten können!“ äußerte Gioconda. „Aber wir sind zu arm, wir sind der Freiheit des Landes geopfert; und sie hat es uns nicht vergolten, wie dir, Mama. Du hattest, was du wolltest.“

„Meint ihr, Töchterchen? … Ihr habt recht, ich war glücklich mit eurem Vater. Das hindert nicht, daß Oreste schön war.“

Ihre Augen wurden ganz klein, [ 101 ]ihre Falten verschoben sich; man wußte nicht, ob sie lachte. Es war dahinten in unsicherm Licht die weiße, beunruhigende Grimasse eines Idols.

„Wer war Oreste?“ fragte die Marchesa Grimi.

„Oreste Gatti, der Neffe des Kardinal-Legaten. Er hatte blaue Augen, er war mein Jugendfreund. Wir spielten im Garten des erzbischöflichen Palastes, auch war ich oft bei den Conversazioni der Damen und Herren. Es gab Zuckerwasser oder Wasser ohne Zucker, aber gekühlt gemäß der Jahreszeit. Die Säle hatten ein Echo. Eine alte Contessa, deren Namen ich nicht mehr weiß, ließ eine silberne Kugel, in der heißes Wasser war, immerfort von einer Hand in die andere fallen.

Als ich sechzehn Jahre alt war, kam er von Rom, von der Universität, und begann mir den Hof zu machen. Auf der Promenade ging er zwanzigmal ganz langsam an mir vorbei und grüßte sogar meine Magd hinter mir. Am Abend stellte er sich mit seinen Freunden unter meinen Balkon und spielte und sang. Er hatte eine Stimme, ich höre sie noch.

Eines Abends aber, als ich vom Spaziergang heimkehrte, war die Stadt ganz voll und laut. [ 102 ]Man hatte eben das Ghetto geschlossen, sein Tor lag gleich beim großen Platz. Ich sah einen jungen Mann am Turm neben dem Tor hinaufklettern und oben eine Axt schwingen. Dann bestiegen viele andere die Mauer und das Tor, schlugen auf die Steine und Bretter und rissen daran. Die Juden sollten herauskommen. Ich erfuhr, dies geschehe im Namen der Freiheit. In mir stand damals ein großes Gefühl auf, das mich nie mehr verlassen hat. Mir scheint, es steht noch heute in meiner Brust, und es hat die Gestalt des Jünglings, der als erster auf dem Turm des Ghetto die Axt schwang. Das war, Töchter, euer Vater.

Er war nicht schön, er war eher schwächlich, und ich sehe es als Wunder an, daß ich ihn durchgebracht habe, bis ins sechsundsiebzigste Jahr … Ich erblickte ihn am Tage nachher auf der Promenade und nickte ihm zu, obwohl unsere Eltern sich nicht kannten. Ich nötigte meinen Papa, zu dem seinigen zu gehen. Auch Claudio machte mir den Hof, aber meistens redete er von der Freiheit, ja, von der Freiheit des Landes, und von Rom. Er war ein großer Sprecher, und seine Arme arbeiteten so dabei, daß ich alles begriff und mitfühlte. Er wachte spät über Büchern, die, wenn [ 103 ]man sie bei ihm entdeckt hätte, ihn ins Gefängnis gebracht hätten. Er trank viel heißen Kaffee dazu, hinterher eiskaltes Wasser, darum sind ihm auch später alle Zähne, noch heil und gesund, aus dem Munde gefallen.

Oreste seinerseits erklärte mir, er wolle mich heiraten. Als er wieder einmal meiner Magd ein Briefchen zugesteckt hatte, antwortete ich ihm, ich werde nur einen Freund der Freiheit heiraten, und einen, der die Priester verjagen werde. Oreste sagte, dieser Brief sei sehr gefährlich, und zerriß ihn vor meinen Augen. Ich beschwor ihn, die Freiheit zu lieben. Er sagte, er sei mit dem Claudio Galanti schon in Rom zusammengestoßen. Jener sei unter den liberalen Studenten der dreisteste gewesen; er, Oreste, könne ihn sich jeden Augenblick vom Halse schaffen.

„Du bist feige!“ rief ich.

Er zog die Brauen zusammen.

„Ich fürchte ihn nicht, er soll bleiben was er ist. Aber auch ich bleibe das.“

„Glaube, mein Oreste, an diese große Sache, die Freiheit! Fühle mit uns, mit deinem Lande, mit diesem edlen, alten Lande, das im Joch von Fremden und Priestern vor Scham zittert!“

„Ich bin Graf Oreste Gatti, der Neffe des [ 104 ]Legaten. Ich gehöre zu den Herren. Was täte ich bei den Empörten? Eure Freiheit lebt nur im Geschwätz ehrsüchtiger Plebejer.“

„O du, du hättest nicht das Tor des Ghetto einzuschlagen gewagt!“

„Hätte ich’s nicht? Wir wollen sehen, was ich wage!“

Er haschte nach mir, wir jagten uns, wir scherzten. Ich weiß noch, es war seltsam, wie mir schwindelte, als er mich fing, zwischen den zwei Kameliensträuchern voll roter Blumen, wo aus dem Sockel des großen steinernen Bildes ein Quell rann. Er atmete ganz ruhig unter seinen kurzen, blonden Locken; und am Hals sah aus seinem Samtmantel ein Stück seines Spitzenkragens. Ich begriff wohl, er war Graf Oreste, der Neffe des Legaten.

Wir gingen langsam zwischen den geschnittenen Bäumen zurück bis unter die Fenster des Palastes. Dort stand ein Brunnen, ein großes, mechanisches Werk, wo Kraft des Wassers viele künstliche Figuren sich bewegten, arbeiteten oder Scherz trieben. Ein Mann auf einem Esel ritt um den Brunnenrand. Ganz oben warfen mehrere sich eine schwere Kugel zu. Oreste sprang plötzlich auf den Esel und steckte den Kopf zwischen die Hände [ 105 ]derer, die Ball spielten. Ich schrie auf; er zog lachend den Kopf zurück. Einen Augenblick später, und die schwere Kugel hätte ihn zerschlagen.

Am Portal kam uns ein Diener entgegen mit dem Befehl des Kardinals, Oreste habe bis morgen abend in seinem Zimmer zu bleiben. Der Kardinal hatte gesehen, wie sein Neffe den Kopf zwischen die Kugelwerfer hielt; und er war erzürnt.

Ich stand in jener Nacht an meinem Fenster, sehr betrübt, weil Oreste nicht kommen durfte und singen; und immerfort sah ich hinüber zu ihm. Die Rückseite meines Hauses ging auf Gärten, und dahinter war der Palast und sein Zimmer. Der Mond ging auf, wir erkannten uns. Er trat auf seinen Balkon, wir grüßten uns aus der Ferne. Wir ließen vorsichtig unsere Tücher flattern, es war im Mondschein nur wie ein wenig Silber, das rieselte. Ich hörte den Schritt der Wache auf dem Hofe unter ihm.

Auf einmal schwang er sich über das geschmiedete Gitter des Balkons, hängte sich mit den Händen an zwei gebogene Stäbe und schaukelte. Der Posten ging eben, abgewendet, am anderen Ende der langen Hofmauer. Oreste blickte hinter sich; die Mauer war drei Meter entfernt und fast [ 106 ]so hoch wie das erste Stockwerk, wo er hing. Er schaukelte stärker; ich drückte mein Tuch ganz in den Mund hinein. Da ließ er sich los, er flog über die Mauer weg. Ich fiel hin. Als ich aufstand, war er schon davon, über die weiche Erde des Gartens. Er fand eine Pforte, er verschwand im Schatten des Gäßchens, auf der Straße zu mir. Ich weiß nicht, wie ich die Treppe hinuntersteigen konnte, ohne entdeckt zu werden, und die Stange vor der Haustür wegschieben, ohne daß sie klirrte. Denn ich zitterte und fühlte das Herz im Halse. Wir drängten uns in den Winkel bei der Tür, nur einige Minuten und ohne zu sprechen.

Sehr bald darauf heiratete ich Claudio. Zwei Jahre nach dem Sturm auf das Ghetto, am 12. Mai 1848, brachen wir auf gegen die Deutschen. Ich ging mit meinem Mann, er stand im Freikorps. Der Papst selbst war mit uns, weil sein Bruder, ein Verschwörer, gefangen saß. Der Papst selbst hatte unsere Fahnen gesegnet. Die Deutschen schlugen uns überall, in Vicenza, bei Cornuda, in Venedig. In Vicenza glaubten wir, sie würden in die Stadt dringen, wir könnten sie aus den Fenstern mit Pflastersteinen zermalmen und mit Öl verbrennen, die Armen. Sie aber beschossen uns von den Bergen. Was wollt ihr, wir [ 107 ]waren unerfahren. In Venedig schlossen sie uns ein, wir lebten von Eselsfleisch, und das kostete ein Auge aus dem Kopf. Wir waren immer voll Freude und Zuversicht. Ich trug eine dreifarbige Schärpe, ihr seht sie in jenem Glaskasten; und mein Haus war voll Verwundeter, die ich pflegte. Meinem Mann durchschossen sie die Wange; der halbe Schnurrbart war fort. Die rechte Hälfte ist später immer ärmer an Haaren gewesen als die linke.

Aber als wir nach Ferrara zurückkehrten, hatte der Papst schon längst Angst bekommen vor den Deutschen. Sein Bruder war heraus aus dem Gefängnis. Der Papst war nun der Freund unserer Feinde. Nun waren wir Verräter; wir, die mit seinem Segen auf unseren Fahnen hinausgezogen waren.

Claudio wollte die Advokatur ausüben; sie verboten es ihm. Er kam manchmal nach Hause und sagte, er wundere sich, daß er nicht verhaftet werde. Die meisten seiner Freunde waren schon verhaftet auf Befehl der Triumvirn. Einer dieser drei Schergen des Papstes war Oreste Gatti.

Indes durchsuchten sie unser Haus. Wir wären verloren gewesen, hätten sie die Waffen gefunden. Aber sie lagen in einem Küchentisch, von dem die [ 108 ]Füße abgeschraubt waren, und der in die Wand hineingeklappt war; es sah aus, als hinge nur ein Brett an der Wand. Sie fanden Papiere, die Claudio unterschreiben sollte. Er weigerte sich. Auch als Oreste Gatti ihn rufen ließ, weigerte er sich.

Mir war sehr unheimlich zumute, ich beschloß mit dem Legaten zu sprechen. Er hatte mir doch oft über die Wange gestrichen, als ich klein war. Wie ich eintrat, sahen sie mich bedenklich an. Ich trug alte Kleider, Claudio verdiente ja nichts. Ich hatte durch das Ghetto gehen müssen, ein öliger Schmutz war an meinen Schuhen. Man holte mich aus dem Vorzimmer von den anderen Bittstellern weg und führte mich in ein Kabinett, wo ich allein war. Da ging die Tür auf und Oreste kam.

„Wie bist du braun geworden,“ sagte er. „Du bist noch viel schöner.“

Er wollte wie früher nach mir greifen, er streifte mit der Hand meine Schulter.

„Dort hat die Trikolore gelegen,“ sagte ich, und trat von ihm fort. Er faltete die Brauen.

„Du wirst bald frei sein, dein Mann lebt nicht mehr lange.“

„Ich weiß,“ erwiderte ich, „daß der und jener [ 109 ]unterschrieben haben und gehängt sind. Aber Claudio unterschreibt nicht.“

„Jene wären auch ohne Unterschrift gehängt worden.“

„Du hättest meinen Mann gleich damals verraten sollen, wie er als Student für die Freiheit sprach. Du hättest deine Feigheit nicht so lange aufsparen sollen.“

Er blieb ruhig.

„Ich weiß, daß du mein sein wirst,“ sagte er. „Ich verlange nichts, du gibst alles von selbst.“

Er besann sich.

„Dein Mann muß flüchten; es steht nicht in meiner Macht, ihn zu schonen. Er soll heute abend um sieben als Bauer durch das Tor fahren.“

Ich ging nach Hause. Claudio kam; seine Freunde hatten ihm geraten zu fliehen. Ich ließ ihn die Kleider des Mannes anziehen, der uns Gemüse brachte, und er entkam.

Ich blieb zurück; Claudio wollte mich nicht mitnehmen auf seine ungewisse Fahrt. Übrigens wußte ich, man hätte mich nicht fortgelassen. Ich war ganz allein in unserem Hause, ich hatte nichts mehr für mich selbst zu essen, viel weniger für eine Magd. Und aus welchem Fenster ich den [ 110 ]Kopf steckte, immer sah ich in das Gesicht eines Spions. Sie ließen niemand hinein zu mir.

Eines Abends aber hörte ich das Haustor gehen. Ich lugte aus meinem Zimmer. Drunten im Flur war alles finster. Aber in der Finsternis näherten sich feste Schritte. Ich schloß nicht meine Tür, ich fand alles nutzlos. Eine jähe, fiebernde Angst sprang in meinen Adern — nicht vor dem, der jetzt die Treppe heraufkam, nicht vor ihm. Es war heiß, mein Hals war entblößt. Und ich hatte Angst vor meiner eigenen Brust und vor den Schlägen darin. Ich suchte nach Hilfe; da nahm ich meine dreifarbige Schärpe und legte sie über meine nackte Brust. So stand ich und wartete.

Er trat ein, und er verzog den Mund.

„Da stehst du und weißt genau, daß du mein bist —, und mit einem gefärbten Tuch willst du trotzen, mir und dir. Wie töricht bist du!“

Aber ich fühlte jetzt Mut. Eine Öllampe mit drei brennenden Schnäbeln flackerte auf dem Tisch hinter mir; er sah von meinem Gesicht nur den Umriß. Ich aber konnte erkennen, wie bleich er war. Große Schatten tanzten um uns her an den Wänden. Er sagte:

„Aber so war es immer. Du hast dir die [ 111 ]Freiheit immer nur wie ein Tuch umgebunden, weil du mir deine Schönheit versagen wolltest. Und du liebst mich, von jeher liebtest du mich! Ist es wahr, daß du geweint hast, als ich vom Balkon über die Mauer gesprungen war?“

„Es ist wahr,“ sagte ich. „Und ich hätte dich geliebt. Aber ich durfte nicht, denn es gab etwas Größeres, das ich erblickt hatte und nicht vergessen durfte: Jenen, der auf dem Turm vor dem Ghetto stand und seine Axt ins Tor schlug.“

„Wie viel Gewissen!“ rief er. „Jetzt sind wir allein in diesem Hause, in das keiner den Fuß setzt. Jener andere ist fern, verschwunden, wer weiß wo. Was lebt jetzt noch von der Welt umher? Auch die Freiheit ist tot, jenes Phantom. Wir sind allein: jetzt wirst du den Mut haben zu unserer Liebe. Und hast du ihn nicht, dann hab’ ich ihn für dich mit!“

Er warf die Arme um meinen Hals, ich fühlte sie zittern. Ich stieß ihn zurück, lief aus der Tür, die Treppe hinab. Er war immer hinter mir. Drunten in einem der dunklen Zimmer ergriff er mich von neuem; wir stürzten hin, rafften uns auf, stolperten weiter. Zuweilen trennten uns Möbel, die wir nicht sahen und die er umstieß. Dann flüsterte er wieder dicht an meinem Gesicht [ 112 ]„Du liebst mich!“ Und ich würgte an einem „Nein“.

Endlich gelangten wir, wir wußten nicht wie, in den Garten. Es war kein Mond da. Wir taumelten stumm und atemlos hintereinander her, durch schwarze Büsche. In einer Laube, in tiefer Nacht fing er mich und warf mich auf die Bank. Seine Hand lag auf meiner nackten Brust; das dreifarbige Tuch war mir längst entfallen, irgendwo im dunklen Hause. Wir fühlten, daß wir einander in die Augen sahen: und dabei unterschied keiner des anderen Gesicht. Auch spürte ich sein Herz klopfen und er meines. Ein Blatt raschelte über unseren Köpfen. Einmal meinte ich, hinter der Gartenmauer schliche ein Schritt. Wir waren bewacht. Haus und Garten und Stadt lagen schwarz und gebannt. Es gab in der Welt nur noch unsere klopfenden Herzen. Ich hatte wieder Angst, solche Angst wie noch nie. Ein Glöckchen fing an zu hämmern, ein gewisses Glöckchen mit einer aufgeregten Stimme. Mir war doch, ich hörte es wieder?“

Die alte Fulvia lauschte. Aber über den Dächern Roms war die Nacht ganz verstummt.

„Wie man sich erinnert,“ murmelte sie. „Wie wenig bedarf es.“ [ 113 ]


„Ich sagte dort in der Laube mit trauriger Stimme:

„Höre, Oreste, es ist seltsam, mir schwindelt, wie zwischen jenen Kameliensträuchern im Garten des Kardinals, wo du mich gefangen hast. Auch damals hatten wir einander gejagt. Aber wir waren damals besser.“

„Es ist deine Schuld,“ erwiderte er, und ich, ohne ihm zuzuhören:

„Wir waren ganz jung, und alle Bäume im Garten hingen voll von unseren Träumen. Weißt du noch, wie wir bei den Conversazioni zwischen den alten Leuten saßen, und sprachen eine Sprache ganz für uns?“

„Und auf der Promenade,“ setzte er hinzu, „wenn wir einander begegnet waren und uns in die Augen geblickt hatten; dann zählte ich meine Schritte: fünf, zehn, zwanzig. Nun kehrtest du um, und ich durfte dir wieder entgegengehen, und meine Füße wurden so leicht, als ob der Weg zu dir durch die Luft führte.“

Wir schwiegen. Dann sagte er hart:

„Und nun bin ich endlich ganz bei dir. Nun kann ich dich haben. Du wolltest es doch so? Und unser Geschick hat uns doch hierher geführt?“

Plötzlich ließ er mich los, trat von mir fort, [ 114 ]in das Laub hinein, daß ich nicht einmal mehr seinen Schattenriß sah.

„Nein, nicht hierher,“ sagte er. Ich flüsterte:

„Ich wollte, in Vicenza hätten sie mich erschossen … O, Oreste, du weißt nicht, wie gut es sich stirbt für diese große Sache, für die Freiheit!“

„Doch. Seit ich dich dort draußen wußte, weiß ich auch das. Und ich wollte, wir könnten zusammen durch eine Stadt wandern, auf die Kugeln fallen. Sag doch, Fulvia, hast du einmal daran gedacht, daß die gleiche Kugel auf uns beide hätte niederfallen können?“

„Wenn du mit mir gewesen wärest, ja, und mit der Freiheit … Ich habe mit meinen Händen die Pflastersteine ausgegraben, die wir aus den Fenstern werfen wollten. Warum warst du nicht da, mir zu helfen?“

„Du hast auch Wunden gepflegt. Hätte ich eine tödliche bekommen und wäre an ihr gestorben! Nur deine Lippen hätten sie zum Schluß streifen sollen!“

„Es kommen andere Schlachten,“ sagte ich nach einem Schweigen leise.

„Ich gehe hin!“ rief er, aufstampfend. „Auch ich gehöre diesem Lande und will es frei machen!“ [ 115 ]


„Wann gehst du?“

„Gleich. Heute nacht!“

Ich erschrak, ich schrie auf.

„Nein! Du wirst mich nicht verlassen. Auch Claudio ist verschwunden. Soll ich immer in diesem Hause bleiben, wo nichts atmet? Wo, scheint mir’s, kein Tag mehr aufgehen wird? Oreste!“

Ich glitt von der Bank, ich sank vor ihm hin, tastete nach seinen Knien. All meine Besinnung war fort, eine kranke Närrin war ich.

„Nimm mich hin,“ sagte ich. „Nimm mich lieber hin! Aber geh nicht fort! Verlaß mich nicht!“

Er hob mich auf wie ein Bruder.

„Wir gehen zusammen, ich bringe dich nach Turin, in Sicherheit.“

Am Himmel entstand ein grauer Schein. Wir unterschieden unsere Gestalten. Wir warteten stumm, bis wir auch unsere Augen sahen. Wie vieles Stürmische mußte in ihnen geschehen sein in dieser Nacht, ohne daß wir’s gesehen hatten. Jetzt waren sie still wie Geister.

Oreste sprengte in der Stadt aus, daß er mich auf sein Lusthaus entführe, vor das Tor. Wir flohen, gelangten über die Grenze und nach [ 116 ]Turin. Dort fanden wir Claudio. Er litt noch an seinen Wunden; eine Krankheit kam hinzu, ich mußte dableiben und ihn pflegen. Oreste allein zog hinaus. Er ist für die Freiheit gefallen, bei Varese.“

Die Marchesa Grimi sagte nach einer Weile seufzend:

„Aber er ist doch für Sie gestorben, für Sie!“

„Ja, Mama,“ meinte Raminga, und ließ sich von ihrem Hündchen das Gesicht lecken. „Du hast alles Gute gehabt. Er starb für dich.“

„Schweigt!“ befahl Fulvia. „Er fiel für die Freiheit!“
 
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